Geb. am: | 29. Juni 1884 |
Fakultät: | Juridische Fakultät |
Kategorie: | Vertriebene WissenschafterInnen |
Wilhelm WINKLER, geb. am 29. Juni 1884 in Prag, gest. am 10. September 1984 in Wien, war ausserordentlicher Professor mit dem Titel eines ordentlichen Professors (ao. Prof., tit.o. Prof.) für Statistik an der Juridischen Fakultät der Universität Wien.
Er wurde im Nationalsozialismus aus "politischen" und "rassischen" Gründen verfolgt und am 22. April 1938 seines Amtes enthoben und von der Universität Wien vertrieben.
Winkler, Sohn eines Musiklehrers, [1] besuchte in Prag das Gymnasium und studierte anschließend an der Deutschen Universität, [2] wo er 1907 zum Dr. jur promovierte. Anschließend stand er von April 1907 bis August 1909 im richterlichen Vorbereitungsdienst in Prag, wobei er in diesem Zeitraum auch den einjährigen Militärdienst ableistete. Danach war er Konzeptsbeamter des statistischen Landesbüros von Böhmen.
Winkler rückte am 26. Juli 1914 in den Ersten Weltkrieg ein und war an der serbischen und italienischen Front stationiert, wobei er zum Oberleutnant befördert und am 2. November 1915 schwer verwundet wurde. Bis Juni 1916 im Spital wurde er anschließend Leiter der Heeresstatistischen Abteilung im wissenschaftlichen Komitee für Kriegswirtschaft des österreichisch-ungarischen Kriegsministeriums, [3] um nach Kriesgsende, ab 1919, als statistischer Fachberater bei den Friedensverhandlungen in St. Germain zu fungieren. [4]
Bereits im Dezember 1918 war er zum Leiter des statistischen Dienstes im deutsch-österreichischen Staatsamt für Heerwesen avanciert. Im Juli 1920 begann er – vorerst als Konzeptsbeamter – eine langjährige Tätigkeit im Bundesamt für Statistik, [5] wo er ab 1923 als Regierungsrat Leiter der Volkszählungsabteilung war. [6]
1921 konnte er sich an der Universität Wien für Statistik habilitieren und im Jahr darauf die Leitung (als Vorstand) des neu gegründeten Instituts für Statistik der Minderheitsvölker zu übernehmen. [7] Der nächste Aufstieg in der universitären Hierarchie erfolgte 1927 mit der Verleihung des Titels eines ao. Prof. [8] Zwei Jahre später wurde er wirklicher Extraordinarius, 1932 tit. o. Prof. [9] Trotz seiner nunmehrigen Anstellung an der Universität Wien war er weiterhin Leiter der bevölkerungsstatistischen Abteilung, zuletzt als Hofrat. [10]
Im autoritären Ständestaat engagierte er sich nach Rathkolb für die Regierung, wobei sich allerdings keine näheren Informationen dazu finden. [11] Exner zufolge war er "loyaler Anhänger" des Regimes. [12] In jedem Fall konnte er aber seine Funktion im Bundesamt für Statistik weiter ausüben und leitete etwa 1934 die österreichische Volkszählung. [13] In politischer Hinsicht war Winkler ursprünglich aber als deutschnational einzustufen, wie er sich nach Rathkolb zu den Anhängern der "nationalen Sache" zählte. Nichtsdestotrotz stand Winkler dem Nationalsozialismus keineswegs nahe und distanzierte sich – vermutlich (auch) aufgrund seiner Ehe mit einer Jüdin – davon. [14]
Seine Ehe war auch verantwortlich für die Maßregelungen, die ihm nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich widerfuhren. Eine gewisse Rolle spielte vermutlich auch seine Nähe zum Austrofaschismus. In seiner Funktion als Extraordinarius wurde er per 22. April 1938 "bis auf weiteres beurlaubt".[15] Eine Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit sollte ihm während der NS-Zeit verwehrt bleiben. Gemäß Winklers eigenen Angaben folgte der Beurlaubung mit Dekret vom 28. Mai 1938 die Pensionierung als Extraordinarius, [16] und im August 1938 die fristlose Entlassung als Abteilungsleiter im Bundesamt für Statistik. [17] Allerdings existiert im Bestand "Berufsbeamtenverordnung" des Österreichischen Staatsarchivs ein Schreiben des Reichsstatthalters, wonach er auf Grund des § 3 der Berufsbeamtenverordnung (stellvertretend für "rassische" Gründe bzw. "jüdische Versippung") als ao. Prof. mit Ende Juli 1938 in den Ruhestand versetzt werde [Anm.: Die Berufsbeamtenverordnung war am 28. Mai 1938 noch nicht in Kraft]. [18] Denkbar wäre, dass das Schreiben aufgrund der (vermutlich) vorhergehenden Pensionierung nicht mehr in Kraft trat bzw. nicht mehr an Winkler versandt wurde. Neben dem Verlust seiner Anstellungen war er aber noch anderen Schikanen ausgesetzt: Er berichtete von "wiederholte[n] Hausdurchsuchungen", die er auf eine "üble[n] Nachbarschaft" zurückführte, wie auch Vorladungen bei der NSDAP und der Gestapo. [19] Vier seiner – zwischen 1921 und 1926 geborenen – Kinder war die Aufnahme bzw. Weiterführung ihres Studiums verwehrt, wie er auch von einem "Auslandsverbot" berichtete. [20] Winklers geistig behinderte Tochter Gertraud – seit 1932 in der Heil- und Pflegeanstalt Gugging bei Wien – wurde mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im Rahmen der NS-Euthanasie ermordet. [21]
Zwar setzten sich 1942 die "wirtschaftswissenschaftlichen Professoren der Fakultät" für Winklers Wiederverwendung ein, diese Bemühungen scheiterten allerdings. Von einem Publikationsverbot war er zwar nicht betroffen, [22] allerdings war er insofern stark eingeschränkt, als er im Inland keinen Verlag mehr fand. [23]
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges meldete er sich umgehend im Rektorat der Universität Wien, um seine Rückkehr in die Wege zu leiten. [24] Die Wiederaufnahme in den Dienststand erfolgte per 6. September 1945, [25] wiewohl Winkler bereits im Sommersemester 1945 wieder Vorlesungen an der Universität Wien abhalten konnte. [26]
Nur wenige Wochen nach seiner offiziellen Rückkehr beantragte das Dekanat der juridischen Fakultät nach Beschluss des Professorenkollegiums Winklers Ernennung zum Ordinarius. [27] Eine positive Erledigung ließ aber auf sich warten. [28] Im Juni 1946 erneuerte das Kollegium bzw. das Dekanat den Antrag, [29] woraufhin die Ernennung ein halbes Jahr später zustande kam: Winkler war mit Rechtswirksamkeit vom 1. Jänner 1947 o. Prof. [30] Nach 64 Jahren bestand somit wieder ein Ordinariat für Statistik an der Universität Wien, wobei Winkler diese Aufwertung auch als eine Form der Wiedergutmachung für seine Verfolgung im Nationalsozialismus betrachtete.
Äußerst negativ begegnete er indes der weiteren Institutstätigkeit von Felix Klezl-Norberg (1885-1972), der während der NS-Zeit Winklers Posten innegehabt hatte. [31] Laut Exner existieren aber keinerlei Hinweise, wonach Klezl, der als Anhänger des autoritären Ständestaats galt und nicht der NSDAP beigetreten war, gegen Winkler intrigiert habe. [32] Für die widerwillige "Zusammenarbeit" machte Winkler übrigens Othmar Spann und Hans Mayer verantwortlich, die 1918 beide als seine Trauzeugen aufgetreten waren und von denen er sich mittlerweile entfremdet hatte. [33] Der Konflikt trat etwa 1955 deutlich zu tage, als Winkler – unter Hinweis auf Klezls Anbiederung an den NS, letztlich aber erfolglos – gegen dessen Ernennung zum Honorarprofessor an der Universität Wien berief. [34]
Winkler lehrte indes ab 1948 auch als Honorarprofessor an der Hochschule für Welthandel. [35] Drei Jahre später hatte er insofern einen Erfolg zu verbuchen, als ihm die inoffizielle Einführung eines "Lehrganges für Diplomstatistiker" gelang, der auf mathematische Statistik fokussierte. Das Unterrichtsministerium hatte diesen zuvor wiederholt abgelehnt. [36] Im Studienjahr 1950/51 war er Dekan der juridischen Fakultät. [37] Nach Absolvierung des Ehrenjahres (1954/55) [38] trat er mit 30. September 1955 in den dauernden Ruhestand, wiewohl er weiterhin als Honorarprofessor lehrte. [39]
Winklers Arbeitsschwerpunkte lagen in den Bereichen der Bevölkerungsstatistik und der Logik der statistischen Verhältniszahlen. Zu seinen wichtigsten Werken zählen "Berufsstatistik der Kriegstoten der österreichisch-ungarischen Monarchie" (1919), "Die statistischen Verhältniszahlen" (1923), "Statistisches Handbuch der europäischen Minderheiten" (1931), "Grundriß der Statistik" (2 Bände, 1931-33), "Grundfragen der Ökonometrie" (1951) und "Demometrie" (1969). [40]
Er war u. a. Gründer und Präsident der Österreichischen Statistischen Gesellschaft und seit 1926 Mitglied des Internationalen Statistischen Instituts, [41] Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, [42] der ungarischen statistischen Gesellschaft Budapest, der Mexikanischen Geographischen und statistischen Gesellschaft, des Kuratoriums des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung, [43] Ehrenmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft (1954) [44] und der Royal Statistical Society, [45] Ehrendoktor der staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität München (1959) [46] und der Staats- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Wien (1966). Außerdem war er Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse. [47] Als er 1966 Ehrenmitglied des Internationalen Statistischen Instituts wurde, war er einer von nur sieben Wissenschaftlern bzw. der einzige im deutschen Sprachraum, der diese Auszeichnung erhielt. [48]
Lit.: Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik/BKA, BBV; Archiv der Universität Wien/Personalakt Winkler; EMÖDI/TEICHL 1937; Vereinigung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Hochschullehrer (Hrsg.), Werdegang und Schriften der Mitglieder. Bd. 1. Köln 1929; KILLY/VIERHAUS 1995-2000 [2001] Bd. 10 (1999); TEICHL 1951; WER ist wer in Österreich 1951 (1953); RATHKOLB 1989; MÜHLBERGER 1993, 16; GRANDNER 2005; Gudrun EXNER, Bevölkerungsstatistik und Bevölkerungswissenschaft in Österreich 1938 bis 1955, Wien – Köln – Weimar 2007; OLECHOWSKI/EHS/STAUDIGL-CIECHOWIC 2014 ; Alexander PINWINKLER, Wilhelm Winkler (1884–1984) – eine Biographie. Zur Geschichte der Statistik und Demographie in Österreich und Deutschland, Berlin 2003; WIKIPEDIA.
[1] Walther Killy/Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 10, München 1999.
[2] Paul Emödi/Robert Teichl (Hg.), Wer ist wer. Lexikon österreichischer Zeitgenossen, Wien 1937.
[3] Vereinigung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Hochschullehrer (Hg.), Werdegang und Schriften der Mitglieder. Bd. 1. Köln 1929.
[4] Emödi/Teichl, Wer ist wer.
[5] Werdegang und Schriften.
[6] Elite Österreichs, 381.
[7] Werdegang und Schriften.
[8] Vgl. UA, PA, fol. 5, Personalangabe, o. D.
[9] Emödi/Teichl, Wer ist wer.
[10] UA, PA, fol. 12, Curriculum vitae, Juli 1945.
[11] Oliver Rathkolb, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus, in: Gernot Heiß/Siegfried Mattl/Sebastian Meissl/Edith Saurer/Karl Stuhlpfarrer (Hrsg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945, Wien 1989, 222.
[12] Gudrun Exner, Bevölkerungsstatistik und Bevölkerungswissenschaft in Österreich 1938 bis 1955, Wien – Köln – Weimar 2007, 193.
[13] UA, PA, fol. 12, Curriculum vitae, Juli 1945.
[14] Rathkolb, Fakultät, 222.
[15] UA, RA GZ 677-1937/38, O.-Nr. 64, Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten an Rektorat, 22. 4. 1938.
[16] UA, PA, fol. 10, Personenstandesblatt, 31. 7. 1945.
[17] Ebd., fol. 12, Curriculum vitae, Juli 1945.
[18] ÖStA/AdR, BKA, BBV, Reichsstatthalterei an Winkler, 7. 7. 1938.
[19] Ebd., fol. 12, Curriculum vitae, Juli 1945.
[20] Ebd., fol. 10, Personenstandesblatt, 31. 7. 1945.
[21] Exner, Bevölkerungsstatistik, 194.
[22] UA, PA, fol. 12, Curriculum vitae, Juli 1945.
[23] Exner, Bevölkerungsstatistik, 196.
[24] UA, PA, fol. 8, Winkler an Rektorat, o. D. (Rektoratsstempel datierte vom 4. Mai 1945).
[25] Ebd., fol. 23, Staatsamt f. VA an Winkler, 6. 9. 1945.
[26] Vgl. UA, VVZ Sommersemester 1945.
[27] UA, PA, fol. 26, JUR Dekanat an Staatsamt f. VA, 24. 9. 1945.
[28] Vgl. ebd., fol. 36, Wilhelm Winkler, "Rehabilitierungssache", 31. 5. 1946.
[29] Ebd., fol. 40, JUR Dekanat an BMU, 7. 6. 1946.
[30] Ebd., fol. 44, BMU an JUR Dekanat, 2. 1. 1947.
[31] Margarete Grandner, Das Studium an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1945–1955, in: Dies./Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hrsg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955 (Querschnitte 19), Innsbruck – Wien – Bozen 2005, 290–312, 310.
[32] Gudrun Exner, Bevölkerungsstatistik und Bevölkerungswissenschaft in Österreich 1938 bis 1955, Wien – Köln – Weimar 2007, 150-153.
[33] Grandner, Studium, 310.
[34] Exner, Bevölkerungsstatistik, 153.
[35] UA, PA, fol. 57, BMU an Rektorat der Hochschule für Welthandel, 26. 7. 1948.
[36] Grandner, Studium, 295.
[37] Robert Teichl, Österreicher der Gegenwart. Lexikon schöpferischer und schaffender Zeitgenossen, Wien 1951.
[38] Vgl. UA, PA, fol. 121, BMU an JUR Dekanat, 8. 4. 1954.
[39] Vgl. ebd., fol. 153, BMU an Winkler, 12. 5. 1955.
[40] Killy/Vierhaus, Enzyklopädie.
[41] Ebd.
[42] Wer ist wer in Österreich. Neuausgabe, Wien 1953.
[43] Emödi/Teichl, Wer ist wer.
[44] UA, PA, fol. 141, JUR Dekanat an Winkler, 18. 10. 1954.
[45] Vgl. ebd., fol. 208, Institut für Statistik an JUR Dekanat, 28. 6. 1961.
[46] Vgl. ebd., fol. 199, Alfred Verdroß-Droßberg an Winkler, 26. 1. 1959.
[47] Ebd., fol. 271, Selbstbiographie, o. D.
[48] Ebd., fol. 243, Slawtscho Sagoroff an BMU, 21. 12. 1966.
Andreas Huber