Geb. am: | 15. November 1910 |
Fakultät: | Philosophische Fakultät |
Kategorie: | Vertriebene Studierende |
Ides (Ida) PIEPES, recte PIEPA, verh. MARGULIES, geb. am 15. November 1910 in Ustrzyki dolne, Galizien/Österreich-Ungarn [Polen] (heimatberechtigt in Wien, Staatsbürgerschaft 1938: Österreich), Tochter von Josef Piepes (Kaufmann in Wien), wohnte in Wien 2., Novaragasse 40/30. Sie war das sechste von sieben Kindern einer verarmten, aber sehr bildungsaffinen jüdischen Familie, die in Idas frühen Kinderjahren aus Galizien auswandern musste und nach Wien kam, wo das Mädchen seine Schulzeit absolvierte und nebenbei durch Heimarbeit zum Familieneinkommen beitragen musste. Schon früh engagierte sie sich in der linkssozialistischen jüdischen Jugendorganisation Haschomer Hazair, wo sie auch ihren Lebensmenschen Moritz Margulies (1910–1964) kennenlernte; beide traten noch in ihrer Gymnasialzeit 1930 der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei.
Sie legte am 18. Juni 1931 am Mädchenrealgymnasium II (Wien 2., Novaragasse 30) die Reifeprüfung (Matura) ab und begann im Wintersemester 1930/31 an der Universität Wien Geschichte und Romanistik zu studieren (ihr Freund 1932 Medizin). Zuletzt war sie im Wintersemester 1933/34 an der Philosophischen Fakultät inskribiert und befand sich danach im Prüfungsstadium.
Ida Piepes wurde im Austrofaschismus nach der Niederschlagung des Bürgerkrieges im Februar 1934 verhaftet, jedoch nach einigen Tagen wieder freigelassen, ebenso wie ihr Freund Moritz Margulies, der aber 1935 erneut aus politischen Gründen verhaftet wurde und dann fast ein Jahr inhaftiert blieb. Ida erwirkte für ihn einen Freigang, vorgeblich um ihn zu heiraten: Sie nutzen diese Gelegenheit zur Flucht in die Tschechoslowakei. Die mittlerweile verbotenen KPÖ schickte Moritz aber bald in die Schweiz, um dort illegale Grenzübertritte von Spanienkämpfer*innen zu organisieren. Ida besuchte ihn dort öfter, arbeitete aber vorerst noch weiter an ihrem Studienabschluss in Wien
Sie hatte am 19. März 1936 in Wien ihre Dissertation "Die politisch-humoristischen Witzblätter von 1848 bis 1860" vorgelegt und sich zu den Abschlussprüfungen (Rigorosen) in Neuerer Geschichte mit Geographie als Nebenfach angemeldet. Ihr einstündiges Rigorosum (Philosophicum) wurde für den 27. Juni 1936 angesetzt; als Prüfer wurden der Philosoph Prof. Moritz Schlick (1882–1936) und der Psychologe Prof. Karl Bühler (1879–1963) vorgesehen. Doch Moritz Schlick wurde in der Woche vor der angesetzten Prüfung auf den Stiegen der Universität Wien erschossen – Ergebnis des vergifteten gesellschaftlichen wie akademischen Klimas im Austrofaschismus und an der damaligen Universität. Idas Prüfung fand trotzdem zum vorgesehenen Termin statt – der Philosoph Robert Reininger (1869–1955) prüfte anstelle von Moritz Schlick.
Ihre Dissertation, die auf Anregung des Historikers und Zeitungswissenschaftlers Prof. Wilhelm Bauer (1877–1953) entstanden war, wurde von diesem und dem Zweitbegutachter Prof. Alphons Dopsch (1868–1963) zwar am 11. April 1936 approbiert, doch kritisierte Bauer in seinem Gutachten die zu demokratische Grundhaltung bei ihrer Einschätzung der Wichtigkeit der Pressefreiheit in Zeiten staatlicher Unterdrückung rund um das Revolutionsjahr 1848 und hielt fest:
"Fleiß und Geschicklichkeit sind der Darstellung nicht abzusprechen, dagegen läßt sie sehr häufig die dem Historiker nötige Objektivität vermissen. Mit der Einseitigkeit liberalistischer Weltanschauung wird jede Einschränkung der Publizistik verurteilt, jede Stellungnahme zugunsten der Regierung von vornherein als 'reaktionär' abgestempelt. Durch diese generalisierenden Betrachtungen bringt sich die Kandidatin um die Wirkung, wenn sie im Einzelfalle ein berechtigtes Urteil abgibt." (Archiv der Universität Wien, Rigorosenakt PHIL 13000)
Im Vorfeld der medial teilweise begrüßten Ermordung seines Kollegen Moritz Schlick wegen dessen "liberalistischer Weltanschauung" war dies eine gewagte Kritik. Das Prüfungsverfahren wurde aber erst mehrere Monate später, nachdem ihr die an sich verpflichtende Prüfung aus Altgriechisch erlassen worden war, am 13. Jänner 1937 mit dem zweistündigen Fachrigorosum bei den beiden Dissertationsbegutachtern Bauer und Dopsch sowie dem Geographen Prof. Hugo Hassinger (1877–1952) fortgesetzt – Ida Piepes bestand mit gutem Erfolg. Damit wären alle Anforderungen für die Promotion erfüllt gewesen, doch zur feierlichen Verleihung samt Promotionseid kam es erst nach dem Ende des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus 1946. (Zwei ihrer Geschwister studierten teilweise gleichzeitig mit ihr: Ihre 1909 geborene Schwester Rachel Piepes studierte 1929–1933 Germanistik und konnte im Juli 1938 zumindest noch im Rahmen einer "Nichtarierpromotion" ihr Studium abschließen – damit verbunden allerdings gleichzeitig ein Berufsverbot im gesamten Einflussgebiet des Deutschen Reichs; ihr 1913 geborener Bruder Simche Wolf Pipes [sic!] studierte 1931–1935 Philosophie und konnte 1937 zum Dr. phil. promovieren).
Ida Piepes ging noch vor der Promotion zu Moritz Margulies nach Basel/Schweiz und engagierte sich wie er trotz Verbots politisch. Als die Schweizer Polizei sie bei einer Hausdurchsuchung alleine antrifft und keine Beweise für die politische Betätigung finden kann, wird sie trotzdem verhaftet, da sie unverheiratet mit einem Mann zusammenlebte – in der Schweiz zu dieser Zeit ein Straftatbestand. Nach Ablauf der Haftstrafe wegen "Konkubinats" musste sie die Schweiz verlassen, konnte aber rasch wieder illegal einreisen. Bald darauf arbeitete Moritz Margulies in einem Flüchtlingslager in Brüssel/Belgien, wohin ihm Ida Margulies folgte und wo ihr Sohn Jean Margulies (1939–2015) geboren wurde (kurz zuvor hatten sie geheiratet). Nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im Mai 1940 in Belgien und Nordfrankreich musste die junge Familie nach Südfrankreich fliehen. Nach Aufenthalten in Flüchtlingslagern in Toulouse, St. Cyprien und Marseille – ein Versuch, eine Einreisebewilligung in die Sowjetunion zu erhalten, scheiterte – waren beide weiter im Widerstand tätig. Der mittlerweile dreijährige Sohn wurde bis Kriegsende bei Henriette und Henri Marius Julien untergebracht, die ein Heim für Kinder von Juden, politischen Gefangenen sowie Mitgliedern der Résistance betrieben und diese über die Grenze in die sichere Schweiz brachten.
Mit gefälschten Papieren fand Ida Margulies in Nancy/Frankreich Arbeit in der Küche bzw. im Büro der Renault-Werke, wurde dort aber von einer Wehrmachthelferin, einer ehemaligen Schulkollegin, erkannt und musste nach Paris fliehen. In Paris bekam sie neue Papiere mit einer neuen Identität und arbeitete unter dem Namen "Lucienne Raynod" als Sekretärin im Marineministerium. Hier schmuggelte sie Flugblätter in das Ministerium, fertigte Durchschläge wichtiger Unterlagen für die Résistance an und organisierte Blanko-Ausweise. Als ein Widerstandskämpfer mit einem solchen gefälschten Ausweis verhaftet wurde, enttarnte die Gestapo Ida Margulies. Nach schweren Folterungen und Gefängnisaufenthalt wurde sie zum Tode verurteilt und in das Sammellager in Drancy bei Paris gebracht, um von dort in ein Konzentrationslager deportiert zu werden. Nach der rechtzeitigen Befreiung des Lagers durch die Alliierten 1944 kam sie zurück nach Paris und konnte schließlich auch ihren Sohn wieder zu sich holen, während Moritz Margulies im Auftrag der KPÖ in Jugoslawien am Aufbau des österreichischen Freiheitsbataillons mitarbeitete.
1945 kehrte sie aus Paris mit ihrem Sohn nach Wien zurück, wohin auch ihr Mann im Mai 1945 folgte und 1946 ihre Tochter Jeanette geboren wurde. Zumindest konnte Ida in dieser Zeit, ohne nochmals inskribieren zu müssen, am 5. Februar 1946 endlich promovieren, da ja ihre Dissertation bereits 1937 approbiert worden war und sie auch beide Rigorosen 1936 und 1937 rechtsgültig bestanden hatte (ihr Mann, der im Austrofaschismus sein 1932 begonnenes Medizinstudium beenden musste, studierte dann ab November 1945 neben seiner Arbeit in der Wiener Polizeidirektion an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien Geschichte und Französisch und promovierte bei Alphons Lhotsky (1903–1968) mit der Dissertation: "Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland in der Zeit Andrassys" am 1. Juli 1949 zum Dr. phil.).
Dr. Ida Margulies arbeitete dann als Chefsekretärin in Wien, konnte ihr Studium also beruflich nicht umsetzen; ihr Mann arbeite bei der Wiener Polizei, wurde später Bildungsmajor und starb 1964. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 brach Ida Margulies mit der KPÖ.
Ida Margulies, geb. Ides Piepes, starb am 16. Jänner 2003 in Wien und ist am Zentralfriedhof beigesetzt.
Auf Antrag der Wiedner Bezirksvertretung vom 22. März 2012 beschloss der Kulturausschuss der Stadt Wien im November 2017, den "Wiedner Stern" (Kreuzung Margaretenstraße/Heumühlgasse/Preßgasse) zu ihren Ehren in "Ida-Margulies-Platz" zu benennen, was am 11. September 2018 vor Ort feierlich umgesetzt wurde.
Seit Mai 2022 wird an sie auch auf dem Denkmal für die im Nationalsozialismus vertriebenen Geschichte-Studierenden und -Lehrenden der Universität Wien ("Wenn Namen Leuchten", Iris Andraschek) erinnert.
Lit.: Archiv der Universität Wien/Nationale PHIL 1930–1949, Rigorosenakt und -protokoll PHIL 13000 und 16932, Promotionsprotokoll PHIL VII (1941–1956) 530; Tilly SPIEGEL, Österreicher in der belgischen und französischen Résistance, Wien, Frankfurt am Main u. Zürich 1969; RÖDER 1980, 170; DÖW, Hg., Widerstand und Verfolgung in Wien 1934–1945. Eine Dokumentation, Bd. 2, 2. Aufl. Wien 1984; Evelin ERNST, Eva GEBER & Marietta SCHNEIDER, Das Spiel ist aus!, in: dies., Hg., Die Frauen Wiens. Ein Stadtbuch für Fanny, Frances und Francesca. Wien 1992, 414–420; Eva GEBER, Zum Tod von Ida Margulies, in: AKIN vom 25. März 2003; Clara FRITSCH, Rollenwechsel. Identitätskonstruktion im antifaschistischen Widerstand skizziert am Beispiel von Ida und Moritz Margulies, in: Helmut Kramer, Hg., Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand, Wien u. Berlin 2006, 189–196; Petra Monika DOMESLE, Österreicherinnen in Exil und Widerstand in Frankreich: Beitrag zum Widerstand und Problematik der Rückkehr; Status in Wissenschaft und Gesellschaft, ungedr. phil. Dipl. Univ. Wien, Wien 2006; Marlen SCHACHINGER, Wien. Stadt der Frauen. Wien 2006; Bezirksvorstehung Wieden, Beschlüsse der Bezirksvertretung vom 22. März 2012 (zur Straßenbenennung 2017); REITER-ZATLOUKAL/SAUER 2022; Jeanette MAYRHOFER-BERGER u.a., Hg., Moritz Margulies | Eine Kunde meiner Existenz: Briefe eines Widerstandskämpfers, Wien u. Berlin 2022; freundlicher Hinweis von Dr.in Barbara Sauer, Wien 11/2018; www.genteam.at.
Herbert Posch