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Chiel Juda Bahrer

Geb. am: 13. Mai 1903
Fakultät: Philosophische Fakultät
Kategorie: Vertriebene Studierende
Chiel Juda BAHRER, geb. am 13. Mai 1903 in Grodzisko Miast, Galizien/Österreich-Ungarn [Polen] (heimatberechtigt in Grodzisko Miast/Polen, Staatsbürgerschaft 1938: Polen). Er kam nach Absolvierung der Volksschule in seiner Geburtsstadt 1914 nach Wien und nahm hier vorerst Bibel- und Talmudstudien auf, bevor er sich 1926 bis 1930 auf die Reifeprüfung (Matura) vorbereitete, die er am 9. Oktober 1930 am Bundesrealgymnasium II (Wien 2., Kleine Sperlgasse 2c) erfolgreich ablegte. Er war dann vom Sommersemester 1932 bis zum Wintersemester 1935/36 an der Philosophischen Fakultät inskribiert, studierte Geschichte und Geographie und befand sich seit 1936 im Prüfungsstadium. Er wohnte während des Studiums in Wien 16., Fröbelgasse 44/14, später dann in Wien 16., Brunnengasse 15/18. Er hatte sich am 10. April 1937 zu den Abschlussprüfungen (Rigorosen) in Geschichte angemeldet und seine Dissertation "Lübeck und das Unternehmerkonsortium" vorgelegt. Diese wurde allerdings von seinem Hauptgutachter, dem Historiker Alphons Dopsch (1868–1963), am 21. April 1937 als unzureichend reprobiert und zurückgewiesen, da Chiel Bahrer nur eine einzige Theorie (Fritz Rörigs Städtegründungstheorie) rezipiert und kritisiert hätte, dabei rezente Forschungsliteratur nicht berücksichtigt hätte und seine Kritik "ein höchst merkwürdiges Geplänkel" sei, das an der kritisierten Theorie "nur deren logische Beweiskraft, nicht aber deren quellenmäßige Begründung kritisch behandelt" und keine eigene Quellenrecherchen angestellt habe. Der Zweitgutachter Wilhelm Bauer (1877–1953) schloss sich dem Urteil zwei Tage später an. Ob Chiel Bahrer bei der Abholung seiner Dokumente am 19. Mai 1937 von der Reprobation informiert wurde, oder die Möglichkeit erhielt, eine überarbeitete Fassung vorzulegen, geht aus dem Prüfungsakt nicht hervor. Zehn Monate später, nach dem "Anschluss", versuchte er offensichtlich, doch noch sein Studium abzuschließen, meldete sich zu den Rigorosen an und wurde auch zugelassen. Er bestand am 30. Juni 1938 das zweistündige Fach-Rigorosum bei den Historikern Prof. Alphons Dopsch (der im Jahr zuvor das negative Gutachten erstellt hatte), Prof. Wilhelm Bauer (der dem negativen Gutachten zugestimmt hatte) und dem Geographen Prof. Hugo Hassinger (1877–1952) (Beurteilung: "Gut"). Am 28. Oktober 1938 bestand er auch das einstündige Rigorosum (Philosophicum) bei den Prüfern Prof. Robert Reininger (1869–1955) und Prof. Hans Eibl (1882–1958), der für den eigentlich vorgesehenen, zu diesem Zeitpunkt aber bereits entlassenen Prof. Karl Bühler (1879–1963) einsprang, mit der Note "Gut". Am Folgetag wurde der Antrag des Dekans an das Rektorat zur vorgesehenen Promotion am 31. Oktober 1938 weitergeleitet – einer sogenannten "Nichtarierpromotion", einer Amtshandlung mit zahlreichen symbolischen Diskriminierungen, aber mit rechtskonstituierender Wirkung, allerdings verbunden mit gleichzeitig verhängtem Berufsverbot im gesamten Deutschen Reich. Vor der Promotion hielt jedoch ein Aktenvermerk des Dekans Prof. Viktor Christian (1885–1963) fest: "Da die Prüfungen abgelegt wurden, ohne dass die Dissertation genehmigt worden wäre, sind sie als ungültig zu betrachten und zu streichen". Zwei Wochen später – dazwischen liegen die Erfahrungen der Novemberpogrome – bat Chiel Bahrer, ihm doch noch den Studienabschluss zu ermöglichen und bot einerseits an, eine "mit einem Preis ausgezeichnete Arbeit als Dissertation einzureichen oder die erste Dissertation zu überarbeiten" er verweist auch darauf, dass er für seine Frau sorgen müsse. Im September 1935 hatte er im Tempel in Wien-Brigittenau Klara Laura Roth geheiratet, die 1931–1935 ebenfalls an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien studiert hatte, allerdings Germanistik im Hauptfach, dann aber 1935 die Pflege ihrer Eltern übernehmen musste, bevor sie ihre Dissertation abfassen konnte. Er weist in einem nachgereichten Ergänzungsschreiben auch explizit darauf hin: "daß ich Ausländer bin, und in Wien nur meine Studien beenden wolle und dann meine bevorstehende Reise ins Ausland anzutreten, was mir aber erst bei Einsendung meiner Zeugnisse behufs Erlangung einer Lehrstelle im Ausland möglich sein wird. Ich bitte nochmals um wohlwollendes Entgegenkommen in einer Lebensfrage für meine Frau und mich." Am nächsten Tag wandte sich auch seine Frau mit einem ausführlichen Schreiben an das Dekanat und ersuchte ihrerseits um die Erlaubnis, ihr Studium noch abschließen zu können, da die Frage der Promotion ihres Mannes nicht entschieden sei. Weder sie selbst, noch ihr Mann, noch ihre pflegebedürftigen Eltern könnten die Mittel für einen Studienabschluss im Ausland aufbringen, sie sei auch sprachlich nicht in der Lage, im Ausland ihre Dissertation zu verfassen, sie müsse dann einer Lohnarbeit nachgehen, um ihre Subsistenz zu fristen, und könne daneben nicht mehr die notwendige Zeit für den Studienabschluss aufbringen. Sie führt an, dass ihr Vater als Eisenbahn-Pensionist jahrzehntelang im Staatsdienst gearbeitet habe, nur eine sehr geringe Pension bekomme und im Ersten Weltkrieg gekämpft habe, wofür er auch mit dem Eisernen Verdienstkreuz ausgezeichnet worden sei (Kriterien, die bis zum Novemberpogrom in der NS-Bürokratie als berücksichtigenswert galten und eine Aussicht auf entgegenkommende Entscheidungen hatten). Abschließend spitzt sie zu, dass ihre "Zukunft davon abhängt, die Erlangung eines Arbeitsplatzes im Ausland, unsere Existenz davon abhängt", und merkt an, dass ihre Dissertation bis auf Einzelheiten fertiggestellt und bereits mit dem Germanisten Prof. Josef Nadler (1884–1963) besprochen sei.
Bereits am 18. November 1938 antwortete der Dekan beiden gleichlautend, ihre Ansuchen werden aufgrund einer Entscheidung des Unterrichtsministeriums vom 24. Oktober 1938 abgelehnt. Beide konnten ihr Studium an der Universität Wien nicht mehr beenden. Chiel Juda Bahrer musste aus Wien fliehen und konnte offensichtlich nach Polen gelangen, wo er bei seiner Cousine, Lea Gottesdiener, in Reichshof [Rzeszów, Woiwodschaft Karpatenvorland], Bahnhofstraße 1, lebte und als Rabbiner arbeitete. Er wurde am 28. September 1940 von der Staatspolizei Krakau [Kraków] verhaftet, da er ohne Genehmigung einen Gottesdienst abgehalten habe. Er wurde am 1. April 1941 in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, Thüringen, deportiert, wo er nach knapp zwei Monaten am 26. Mai 1941 in der Krankenbaracke umkam.


Lit.: Archiv der Universität Wien/Nationale PHIL 1932–1938, Rigorosenakt und -protokoll PHIL 13473, PHIL GZ 1/III ex 1938/39, ONr. 4, 4a, 5 und 5a; The National Archives at College Park, Maryland/National Archives Collection of Foreign Records Seized, 1675–1958/Lists and Registers of German Concentration Camp Inmates, 1946–1958; www.genteam.at; www.ancestry.de.
Anm.: Chiel Juda Bahrer wurde ein Opfer des Holocaust. Es ist wahrscheinlich, dass er im Zuge seiner Abschlussprüfungen auch ein Opfer des an der Universität Wien damals stark virulenten Rassismus und Antisemitismus wurde, und nicht ausschließlich die formale Nichterfüllung einer Prüfungsanforderung zur Verhinderung seiner Promotion im letzten Moment führte. Dies kann aus den Quellen nicht mit letztgültig festgestellt werden - die Entscheidung wurde zugunsten seiner Aufnahme in das Gedenkbuch getroffen.


Herbert Posch


Chiel Bahrer, Rigorosenprotokoll, © Archiv der Universität Wien

Chiel Bahrer Brief 14.11.1938 um Zulassung zur Promotion, © Archiv der Universität Wien

Ablehnung Zulassung zur Promotion, Rektorat an Chiel Bahrer 18.11.1938, © Archiv der Universität Wien

Chiel Bahrer Brief 14.11.1938 um Zulassung zur Promotion, © Archiv der Universität Wien
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