Geb. am: | 14. Juni 1908 |
Fakultät: | Medizinische Fakultät | Medizin Universität Wien |
Kategorie: | Vertriebene Studierende |
"Im Arkadengang kam mir ein Trupp von 40 bis 50 Hakenkreuzlern entgegen. Die 2 Anführer des Trupps forderten mich und meinen Kollegen auf, uns zu legitimieren. Auf meine Frage: 'Warum? Mit welchem Recht verlangen Sie das?' bekam ich keine Antwort. Ich wurde von meinem Kollegen getrennt und im selben Augenblick stürzte sich die Horde, mit Stahlruten, Totschlägern, Gummiknütteln, eisernen Schlagringen, Stöcken etc. bewaffnet, auf mich. Ich wurde abwechselnd von jedem der 'Helden' geprügelt, durch den Arkadengang gehetzt. Meine Hilferufe wurden beantwortet mit 'Der Jud g'hört erstochen. Habt's keine Rücksicht mit ihm. Rache für Simmering! [Anm. HP: Ausschreitungen vom Vortag]'
Ich lief gegen das Denkmal in der Mitte des Hofs [Anm. HP: Kastalia Brunnenfigur] und kam dort zu Fall. Während des Falls wurde mir der rechte Halbschuh vom Fusse gerissen. Als ich nun am Boden lag, wurde ich buchstäblich zertrampelt. Die 'Helden' traten auf meinen Brustkorb herum, stiessen mit ihren Schuhen gegen mein Gesicht, gegen meine Arme und Beine. Trotzdem gelang es mir, mich zu erheben und in den Arkadengang zu fliehen. Die Horde verfolgte mich und im Arkadengang erhielt ich mit einem Schlagring einen furchtbaren Schlag ins rechte Auge, mit der Faust einen Hieb gegen das linke Auge, einen Hieb gegen die Oberlippe und einen gegen die Nase. Ein Hakenkreuzler, der mir entgegenlief, hieb mit aller Gewalt mit einem messerartigen Instrument (es bestand aus einem Griff und einer rechtwinkelig zum Griff abgeflachten Platte) auf meine Schädeldecke ein. Ich konnte mich, aus zahlreichen Wunden blutend, kaum mehr auf den Beinen halten und taumelte, ohne Unterlass geprügelt, durch den Arkadengang.
Plötzlich erblickte ich ein paar Schritte vor mir eine Studentin (Rosa Weiss [...]) und ich schrie ihr zu, sie möchte mich retten. Sie schützte mich, indem sie sich vor mich hinstellte und der Bande zurief: 'Wollt ihr ihn denn ganz erschlagen!' Die Leute liessen nun von mir ab und wir flüchteten in das nahe Buffet.
Nach einer Weile kam ein N. S. in Uniform auf mich zu und erbot sich, mich durch einen rückwärtigen Ausgang ins Freie zu bringen. Ich antwortete, dass ich jetzt nicht fähig sei, ihm - wie er wollte - rasch zu folgen. Er aber erklärte: 'Obwohl Sie verletzt sind, müssen sie jetzt hinter mir laufen, sonst kann ich für alles weitere keine Verantwortung übernehmen'. So musste ich, nur mit einem Schuh, ihm nachlaufen, neben mir Fräulein Weiss und hinter mir als Rückendeckung ein zweiter Student, der sich ein Abzeichen ansteckte. Auf dem Weg durch verschiedene Korridore mussten wir öfter wegen nahen Lärms stehen bleiben, schliesslich aber kamen wir zu einer Hintertür, die der Führer öffnete. Vorher hatte er uns gesagt: 'Merken Sie sich: wenn ein S. A. Mann vor Ihnen geht, kann Ihnen nie etwas geschehen!'
Vor der Tür in der Reichsratstrasse standen ein paar Hakenkreuzler. Unser Führer hob die Hand und rief ihnen zu: 'Kameraden, dem machts nichts mehr, der hat's schon! Die Leute lachten - mein Aussehen und der eine unbekleidete Fuss kam diesen Kulturmenschen offenbar besonders lustig vor.
Auf der Strasse ersuchte ich zwei dort stehende Wachleute, sie möchten mit einen Wagen holen, da ich keine Kraft mehr habe zu gehen. Zuerst reagierten sie überhaupt nicht, dann nach einer Weile meinte der eine, ich könne mir doch selbst einen Wagen holen. Ich und meine Begleiterin, die mich nicht verliess, obwohl sie selbst einer Ohnmacht nahe war, hielten nun ein Lastauto auf, dessen Führer uns bereitwillig mitnahm und auf der Unfallstation der I. chirurg. Klinik brachte. Dort wurden meine beiden rissquetschwunden am Schädel vernäht und ich erhielt eine Tetanusinjektion. Dann gingen wir auf die Klinik Meller [Anm. HP: Univ.-Augen-Klinik im Alten AKH], wo mein verletztes Auge untersucht wurde."
Josef Kesselbrenner war für zwei Wochen bettlägrig aufgrund der Verletzungen durch die Prügel, hatte Hüftquetschungen und Prellungen an Armen, Waden und Knien und musste noch mehrmals in die Augenklinik zur Behandlung des verletzten Auges, litt noch Wochen unter Sehstörungen und migräneartigen Kopfschmerzen.
Er versuchte aber trotz dieser Studienerfahrungen sein Studium an der Universität Wien fortzusetzen und inskribierte trotz der starken gesundheitlichen Probleme noch zehn weitere Semester kam aber semesterlang im Studium kaum voran, durch zahlreiche Krankenstände wurde die Semester nicht angerechnet und er kam lange über das fünfte anrechenbare Semester nicht hinaus.
Somit war er im Sommersemester 1938, nach dem "Anschluss" auch offiziell erst im 7. anrechenbaren Studiensemester als er nunmehr aus rassistischen Gründen gezwungen war, das Studium gänzlich abzubrechen und die Universität zu verlassen.
Sein jüngerer Bruder Dr. Israel Kesselbrenner (geb. 12. Juli 1909 in Wien, gest. 27. November 1997 in Livingston, Essex County, NJ/USA), der erst ein Jahr nach ihm mit dem Medizinstudium an der Universität Wien begonnen hatte, konnte am 12. November 1937 noch sein Studium mit der Promotion zum "Dr. med. univ." abschließen und 1938 in die USA emigrieren.
Israel Kesselbrenner hatte neben dem Medizinstudium auch seine Psychoanalyse-Ausbildung in Wien absolviert und wurde nach seiner Emigration in die USA Psychiater in einem New Yorker Spital und Psychoanalytiker/Therapeut mit Praxis in Yorkville. Er war langjähriger Direktor des Manhattan State Hospital und Clinical Professor an der Columbia Medical School.
Mit seiner Frau Ida hatte er zwei Söhne (Kardiologe Dr. Michael Kesselbrenner, 1950- 2017, und Dan) und sieben Enkelkindern.
Sein Vater, der Uhrmacher Baruch Kesselbrenner (geb. 18. April 1880) starb am 30. März 1941 im Spital der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, ihre Mutter, Sara Kesselbrenner (geb. 8. Dezember 1878 in Husyatin, Galizien/Österreich-Ungarn), wurde am 17. August 1942 von ihrer Wohnung in Wien 2, Darwingasse 5, nach Maly Trostinec/Weißrussland deportiert und dort vier Tage später ermordet.
Josef Kesselbrenner selbst konnte nach dem "Anschluss" aus Wien flüchten und emigrierte am 13. Juli 1938 nach Luxemburg, wo er für zwei Jahre lebte und nach der Deutschen Okkupation im Mai 1940 noch kurz vor der Implementierung der Nürnberger Rassengesetze, dem Start der "Arisierungenen"/Enteignungen und der Einführung der Zwangsarbeit im August 1940 nach Brüssel ind das ebenfalls okkupierte Belgien zu fliehen. In Yad Vashem findet sich sein Name zwar auf einer Liste deportierter Juden aus Luxemburg, doch gibt er selbst in seinem Opferfürsorgeantrag von 1960 keine Deportation an. In Belgien unterlag er den diskriminierende Anti-Juden-Gesetzen und musste von 1942 bis 1944 den stigmatisierenden gelben Judenstern tragen, konnte aber zumindest überleben.
Nach Kriegsende besuchte er im Oktober 1948 für eine Woche nochmals Wien, kehrte aber wieder nach Belgien zurück und wanderte erst länger nach Kriegsende am 20. Jänner 1950 von Antwerpen mit der SS Stavelot aus Belgien aus und emigrierte endgültig in die USA wo er am 30. Jänner 1950 in New York City ankam (offiziell "in transit to La Havanna/Kuba"), und gleich am Tag nach der Ankunft am 1. Februar 1950 in Manhattan, New York City, NY, Elsie Backer (1909-1992) heiratete.
Josef Kesselbrenner lebte mit seiner Frau Elsa in New York anfangs in 2*12 Broadway Terrace und ab Mai 1957 dann in 60 Park Terrace West # A61. Sie erhielt die U.S.-Staatsbürgerschaft bereits am 11. Jänner 1954, er am 11. August 1958.
Wann er genau starb ist derzeit nicht bekannt.
Lit.: Archiv der Universität Wien/Nationale MED 1928-1938, Promotionsprotokoll MED XIII, Nr. 3610 [Israel Kesselbrenner], RA GZ 199 ex 1932/33, RA GZ 392 ex 1932/33; POSCH/INGRISCH/DRESSEL 2008, 415; Linda ERKER, "Jetzt weiss ich ganz, was das 'Dritte Reich' bedeutet – die Herrschaft schrankenloser, feiger Brutalität." Eine Momentaufnahme der Universität Wien im Oktober 1932, in: Lucile Dreidemy u.a., Hg., Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2015, 177–190, bes. 181f.; REITER-ZATLOUKAL/SAUER 2022; freundlicher Hinweis von Mag. Bernhard Hammer, Wien 05/2015 und von Dr.in Barbara Sauer, Wien 08/2019; DÖW Datenbank Shoah-Opfer [Sara Kesselbrenner]; Yad Vashem Victims-Database; www.ancestry.de.
Herbert Posch