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Harry Sicher

Geb. am: 11. September 1889
Fakultät: Medizinische Fakultät | Medizin Universität Wien
Kategorie: Vertriebene WissenschafterInnen

Harry SICHER, geb. am 11. September 1889 in Wien, gest. am 10. September 1974 in den USA, war 1938 Privatdozent für Zahnheilkunde mit dem Titel eines ausserordentlichen Professors (Pd. tit.ao.Prof.) an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien.

Er wurde im Nationalsozialismus aus rassistischen Gründen verfolgt und am 22. April 1938 seines Amtes enthoben und von der Universität Wien vertrieben.

Harry Sicher wurde am 11. September 1889 in Wien geboren als Sohn von Isak/Ignatz Sicher (Händler) und Johanna Sicher, geb. Frommer. Nach der Reifeprüfung am Maximilians-Staatsgymnasium in Wien 9 im Jahre 1907, studierte er Humanmedizin an der Universität Wien und promovierte am 13. März 1913 zum "Dr.med.univ." und heiratete kurz darauf am 10. Juni 1913 Lydia Bak (1890-1962, sie promovierte 1916 zur "Dr.med.univ.", später mit Fokussierung auf Psychiatrie und Individualpsychologie bei Alfred Adler und 1921 in Zoologie zur "Dr.phil.") im Stadttempel in Wien und sie zogen nach Wien 9., Beethovengasse 4. Die Ehe blieb kinderlos.

Bereits während des Studiums arbeitete Harry Sicher 1909–1913 als Demonstrator am I. Anatomischen Institut unter Prof. Emil Zuckerkandl (1849–1910) bzw. Prof. Julius Tandler (1869–1936), und er blieb diesem Fachgebiet zeitlebens treu. Nach Beendigung des Studiums entschied sich Harry Sicher für die Facharztausbildung in Zahnmedizin. Die Jahre als Assistent am zahnärztlichen Institut 1914 bis 1920 (unter Leitung von Julius Scheff (1846–1922) bzw. Rudolf Weiser (1859–1928)) wurden durch drei Jahre Kriegsdienst als Militärarzt im Ersten Weltkrieg (in Bosnien Herzogowina, Montenegro und Dalmatien) unterbrochen. Auf Vermittlung Tandler wird er 1919 als Professor für Anatomie an das neugegründete Institut an der Universität in Sofia/Bulgarien berufen, lehnt aber ab. Er konvertierte und trat im Oktober 1919 aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus, konnte sich im Juni 1920 habilitieren und wurde Privatdozent für Zahnheilkunde. Ab 1921 betrieb er auch eine zahnärztliche Privatpraxis in Wien 1, Mölkerbastei 5. Im Juli 1933 erhielt er den Titel - aber nicht die Position - eines außerordentlichen Professors (Pd. tit.ao.Prof.).

Im Nationalsozialismus wird er 1938 aus rassistischen Gründen von der Universität Wien vertrieben, seine venia legendi annulliert.

Auch seine Schwester, die Chemikerin Dr.phil. Grete Sicher (1893-1956) - sie arbeitete bis März 1938 als wiss. Hilfskraft an der Univ.-Klinik für Syphilidologie und Dermatologie der Universität Wien (Leitung: Prof. Wilhelm Kerl) - wurde im Nationalsozialismus aus rassistischen Gründen entlassen.

Da er auch seine private Praxis schließen musste und nicht mehr als Arzt arbeiten durfte muss er aus Wien fliehen und er konnte mit Ehefrau und Schwester 1938 zwar noch rechtzeitig nach Großbritannien emigrieren, der Versuch, dort eine Zulassung als Zahnarzt zu bekommen oder ein andere einschlägige Stelle zu finden, scheiterte aber und er emigrierte am 23. April 1939 weiter in die USA. Dort fand er ab Juni 1939 eine Anstellung als Assistenzprofessor für Neuroanatomie an der University of Chicago Medical School und trennte sich von seiner Frau, die 1940 eine Stelle in der Family Service Society in Salt Lake Cita, Utah, als Psychiaterin fand, bevor sie 1941 nach Los Angeles übersiedelte, wo sie ein individualpsychologisches Zentrum aufbaute (sie wurde langjährige Vorsitzende der "Alfred Adler Society" und Vizepräsidentin der American Society of Adlerian Psychology" am Institute for Individual Psychology).

In Wien wurde 1942 Sichers Mutter in mehrere Konzentrationslager deportiert, zuletzt in das Vernichtungslager Treblinka wo sie vermutlich ermordet wurde.

Harry Sicher wurde ab 1942 Professor für Anatomie und Histologie am College of Dental Surgery der Loyola University, Chicago und Vorstand des dortigen Instituts und konnte seine Karriere in der Anatomie in den USA durchstarten - nach Timo Schunck dank starker Lernmotivation, außergewöhnlichen Lehrfähigkeiten, Einzigartigkeit seiner Forschungsthemen und -zugänge und dank des dichten akademischen Netzwerks, das er mit anderen Vertretern der "Wiener Schule" knüpfen konnte. Ab 30. November 1944 war er US-amerikanischer Staatsbürger und emeritierte 1960 an der Loyola University.

Harry Sicher publizierte im Laufe seiner Karriere von 1911 bis 1970 weltweit etwa 145 wissenschaftliche Artikel in renommierten Fachzeitschriften, in denen er alle Fachrichtungen der Zahnheilkunde behandelte. Dazu kommen noch 6 Lehrbücher, 4 in Deutsch und 2 in Englisch, ein Buchbeitrag in einem Lehrbuch für Zahnheilkunde, und ein Lehrbuch, welches er nach dem Tod seines Kollegen Balint Orban (1960) in der 5. Auflage herausgegeben hat. Er war ein Pionier auf dem Gebiet der oralen Anatomie, sein bahnbrechendes Lehrbuch "Oral anatomy" (1949) wurde in vier Sprachen herausgegeben und wurde für viele Jahrzehnte DAS Standardlehrbuch für Anatomie für Zahnmedizinstudenten in vielen Ländern, es erschien 1988 bereits in 8. Auflage. Durch zahlreiche Entwicklungsstudien von Knochen und Kiefer erlangte Sicher große Ehre unter Kieferorthopäden. Auch sein Pionierwerk zur Anatomie für die Praxis der zahnärztlichen Blockanästhesie und sein Werk "Knochen und Knochen" sind noch exemplarisch hervorzuheben.

Er erhielt eine Reihe von hochrangigen Auszeichnungen und Ehrungen u.a. Ehrendoktorat der Loyola University Chicago (1952), die "Alpha-Omega-Achievment Medal" (1962), den "Samuel Charles Miller Award" (1962) der  "American Academy of Oral Medicine", den "Albert H. Ketcham Memorial Award" (1967) der "American Association of Orthodontics" und den "Isaac Schour Memorial Award" der "International Association of Dental Research".
Von der Universität Wien erfolgte 1963 lediglich die Übermittlung des "Goldenen Ehrendiplom" anläßlich der 50-jährigen Wiederkehr seiner Promotion von 1913.

Prof. Dr. Harry Sicher starb 85-jährig am 9. Dezember 1974 in Chicago.


Lit.: Archiv der Universität Wien, Personalakt S 304.1192; 106.I.1570; Personalstand 1937/38, Rektorat GZ 730 ex 1937/38 ONr. 4, 10, 11, GZ 677 ex 1937/38 ONr. 62; DÖW: 6802b; MERINSKY 1980, 223; MÜHLBERGER 1993, 32; BLUMESBERGER 2002, 1263; UB MUW/van Swieten Blog (2008/2018); Timo Schunck u. Dominik Gross, From Nazi victim to honored scientist: The two lives of Jewish anatomist Harry Sicher (1889–1974), in: Annals of Anatomy, 235 (2021) 151667; freundlicher Hinweis von Dr. Timo Schunck, Inst.f. Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, RWTH Aachen University, Aachen 02/2021; wikipedia.


Herbert Posch


Unterrichtsminister Prof. Menghin widerruft die venia legendi und Entlassung jüdische Dozenten am 22. April 1938, darunter Harry Sicher, Seite 1 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 677 ex 1937/38

Unterrichtsminister Prof. Menghin widerruft die venia legendi und Entlassung jüdische Dozenten am 22. April 1938, darunter Harry Sicher, Seite 2 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 677 ex 1937/38

Unterrichtsminister Prof. Menghin widerruft die venia legendi und Entlassung jüdische Dozenten am 22. April 1938, darunter Harry Sicher, Seite 5 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 677 ex 1937/38

Unterrichtsminister Prof. Menghin urgiert Entlassung der aus rassistischen Gründen enthobenen Hochschullehrenden am 17. Mai 1938, darunter Grete und Harry Sicher, Seite 1 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 730 ex 1937/38

Unterrichtsminister Prof. Menghin urgiert Entlassung der aus rassistischen Gründen enthobenen Hochschullehrenden am 17. Mai 1938, darunter Grete und Harry Sicher, Seite 2 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 730 ex 1937/38

Unterrichtsminister Prof. Menghin urgiert Entlassung der aus rassistischen Gründen enthobenen Hochschullehrenden am 17. Mai 1938, darunter Grete und Harry Sicher, Seite 3 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 730 ex 1937/38

Verzeichnis der aus rassistischen Gründen enthobenen Hochschullehrenden und der stattdessen neu eingesetzten Wissenschafter*innen, Mai 1938 Seite 1 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 677 ex 1937/38

Verzeichnis der aus rassistischen Gründen enthobenen Hochschullehrenden und der stattdessen neu eingesetzten Wissenschafter*innen, Mai 1938 Seite 2 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 677 ex 1937/38

Verzeichnis der aus rassistischen Gründen enthobenen Hochschullehrenden und der stattdessen neu eingesetzten Wissenschafter*innen, Mai 1938 Seite 3 (Foto: Herbert Posch), © Archiv der Universität Wien RA GZ 677 ex 1937/38
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